Paradoxes über das ich nachdenken muss

Tag 3 in einer Sommerwoche 2020 im Homeoffice startet mit strahlendem Sonnenschein, nicht nur gefühltem „endlich mal wieder richtig Sommer“ (frei nach Rudi Carell), einem Tee am Schreibtisch und dem Handelblatt Morning Briefing. Dort heißt es:

Paradox ist, dass die USA viel stärker als Europa unter Covid-19 leiden, die größten 500 amerikanischen Konzerne aber viel besser durch die Virenkrise kommen als ihre Pendants vom „alten Kontinent“. Nach unseren Berechnungen sind die Gewinne der Top 500 in Europa im ersten Quartal um 87 Prozent eingebrochen. Analysten rechnen mit mehr als 30 Prozent minus übers ganze Jahr hinweg – in den USA zeichnet sich dagegen nur ein Rückgang von 18,5 Prozent ab. Der einfache Grund: Die Wirtschaft dort wird stark durch die IT-Branche dominiert, die von der Zoom-Teams-Social-Media-Euphorie der Lockdown-Tage profitiert. Europas Top-Branchen Auto, Handel und Energie dagegen sind auf global intakte Lieferketten angewiesen, die es auf einmal nicht mehr gibt.

Handelsblatt Morning Briefing, 25.06.2020

Interessant denke ich, da muss man mal genauer hinsehen. Und wenn schon die Zeitungen über Paradoxien schreiben vielleicht auch selbst über Paradoxien nachdenken …

Fast eineinhalb Jahre später: Es ist November 2021. Die Bundestagswahl im September hat neue, sehr knappe Mehrheiten erzeugt, die CDU zerlegt sich seitdem, die Ampel hat verhandelt, nichts drang nach außen (Respekt für so viel Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Akteure!) und die Corona-Lage in Deutschland erscheint extrem angespannt, kaum noch beherrschbar.

Ich könnte im Strahl k… Es ist nur noch mit Zynismus zu ertragen: Ich finde es hochgradig paradox, dass im November 2021 Italien, Spanien, Portugal Israel … besser duch die Krise zu kommen scheinen als wir. Und noch paradoxer ist es, dass viele Politiker jetzt auch noch behaupten die Wissenschaftler hätten die Dramatik der Lage, wie wir sie jetzt haben, nicht vorhergesagt.

Hey das ist doch gar nicht paradox. Laut Duden handelt es sich bei einem Paradoxon um eine …

… scheinbar unsinnige, falsche Behauptung, Aussage, die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist.

https://www.duden.de/rechtschreibung/Paradoxon

Das Handelsblatt löst es auf. Eben weil die Wirtschaft in den USY durch die IT geprägt ist und jene in Europa eher durch auf Lieferketten dominierte Produktion ist es in Zeiten von Corona folgerichtig, dass die einen profitieren und die anderen leiden. Das ist nicht paradox. Das ist folgerichtig.

Warum die anderen Länder aktuell besser dastehen als wir deutschen ist ebenfalls nicht paradox sondern folgerichtig: Die dortigen Maßnahmen waren in der Vergangenheit teils deutlich drastischer, in jedem Fall ist die Impfgeschwindigkeit und -abdeckung deutlich höher. In Deutschland wird dagegen gestritten und diskutiert und mal so, mal so, mal gar nicht und mal halbherzig gehandelt. Das färbt ab auf den Einzelnen. Gern diskutierend, in jedem Fall stets genteilige Beispiele anführend wird hier viel zu oft der Verstand ausgeblendet.

Dieses Lavieren anstelle eines Agierens, das ist paradox.

Beispiel aus dem Privaten: Da sind die Kinder, die im Verein Handball spielen. Und da ist Taining, da sind Wetkampfspiele nach Spielplan. Was zum Teufel tut man, wenn doch Handball in der Halle stattfindet und ganz gewiss nicht mit Abstand spielbar ist? Weder von den Stortverbänden noch von der Politik kommen Signale, sollen wir das Kind weiterhin spielen lassen? Die Schulen bleiben offen, dort gibt es die einen Kontaktkreise. Der Handball bleibt offen, das sind andere Kontaktkreise. Die Kontaktkreise jedes einzelnen überlagern Kontaktkreise aller anderen … Und die Zahlen steigen und steigen …

Dieses Nichts-Tun anstelle eines Agierens, das ist paradox.

Wir haben mit unseren Kinden entschieden, ab Inzidenz 300 den Handball zu streichen, weil Schule wichtiger ist. Und wir haben jetzt neben einem Fahrradergometer ein Laufband im Keller (zugegeben, dass kann sich nicht jeder leisten, schon aus Platzgründen, also bitte: Das ist kein Lösungsvorschlag .. ) Am Sport muss es also nicht mangeln, an Kontakten aber schon. Und was ernten wir per WhatsApp: Mitteilungen anderer Eltern, das Kind will ja nicht ihre Mannschaftskamerade hängen lassen und also gehen wir noch zum Training. Mhm.

Immerhin kein Vorwurf, nur eine Feststellung. Das schmerzt dennoch. Wir haben nicht entschieden, die Mannschaftkameraden hängen zu lassen. Wir haben entschieden, Kontakte zu reduzieren.

Nichts-Tun anstelle eines Agierens, das ist paradox.

Und eine halbe Woche später die noch amtierende Kanzlerin: Bitte reduzieren Sie ihre Kontakte! Danke, Frau Bundeskanzlerin für diese klaren Worte. Wir fühlen uns bestärkt in dem was wir bereits begonnen haben.

Und zwei wochen später: Die Zahlen stiegen und steigen, fünf weitere Familien stellen nun die Kontakte ein. Und um es noch einmal festzuhalten, sie lassen niemanden hängen, sie priorisieren den Kampf gegen die Pandemie vor den Wettkampfsport im Jugendhandball. Für meinen Geschmack ein wenig spät, aber immerhin, vielleicht ja nicht zu spät.

Aber ehrlich: Ich finde das Verhalten des Handballverbandes seltsam … bis paradox. Die Frage ist nur, welche versteckte höhere Wahrheit da wohl dahinter stehen mag. Muss das erst „die Politik“ entscheiden, in dem Verbote verhängt werden? Kann ein Handballverband angesichts einer für alle sichtbaren Situation, nicht eigenständig agieren?

Wenn Menschen der Wahrheit ins Auge blicken und wüssten was zu tun ist, es aber nicht tun (weil da hinter versteckt eine – scheinbar – höhere Wahrheit liegt), dann ist etwas paradox.

Oder diese Menschen haben einen anderen Plan, folgen einem für alle anderen nicht auf den erten Blick erkennbaren Ziel. Aber das ist dann jeweils eine andere Geschichte. Die mit den Politikern könnte der vergangen Wahlkampf sein. Damit wäre das vermeintliche politische Corona-Sommer-Paradoxon „ist doch fast vorbei“ zumindest erklärbar. Denkt mal drüber nach!

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